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(Mai 2021)
Vor einiger Zeit habe ich eine kleine Reise über das Wochenende unternommen, um eine langjährige Freundin zu besuchen. Aufgrund der langen Strecke wählte ich den Zug, denn ich hatte keine Lust auf Stau und Stress auf der Strasse. Und meinen ökologischen Fussabdruck möchte ich auch grundsätzlich so klein wie möglich zu halten.
Ich reservierte meine Platzkarte und gönnte mir einen Fensterplatz im Ruheabteil in der 1. Klasse. Das waren, so befand ich, schöne Voraussetzungen für eine entspannte Reise.
Beim ersten Stopp bekam ich einen Mitreisenden. Er setzte sich mir gegenüber. Es bestand zu dieser Zeit Maskenpflicht, und so beäugten wir gegenseitig unsere freigelegte Gesichtshälfte, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wer uns da in den kommenden Stunden Gesellschaft leisten würde. Seine obere Hälfte war jung und recht gutaussehend. Quasi appetitlich.
Soweit, so gut. Mein Gegenüber, kaum hatte er Platz genommen, fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er die Maske abnähme. Schon halb hatte er sich das Teil vom Gesicht gezogen. Ich fühlte mich recht streng und spiessig, bat ihn aber, die Maske aufzubehalten, da ich es für besser hielt, die angeordneten Massnahmen so gut es ging zu befolgen.
„Ich werde aber bald etwas essen, dann muss ich sie ja sowieso abziehen“, kündigte er an. „Ich habe nämlich ständig Appetit, wissen Sie“. Essen ist ein Grundbedürfnis, dagegen wollte ich natürlich nichts einwenden.
Wenige Minuten später, kaum hatten wir den Bahnhof verlassen, holte er aus seinem Rucksack eine knisternde Papiertüte sowie eine Thermoskanne heraus. Reisen macht bekanntlich hungrig. Er zog die Maske ab und biss herzhaft in sein mitgebrachtes Sandwich. Würziger Käse, mmmhh! Und er goss sich den ersten Becher Kaffee ein. Ich freute mich, dass ich an seinem Snack teilhaben durfte, nämlich akustisch (knisternde Tüte, knuspriges Brötchen), optisch (das Brötchen staubte das Mehl über sein Gesicht und verteilte explosionsartig Krümel in der Gegend) sowie olfaktorisch (würziger Käse halt). Wenigstens der Kaffee versuchte duftend dagegen anzuhalten. Den schlürft man übrigens am besten. Das verstärkt das Aroma und verhindert Verbrennungen.
In der Zwischenzeit holte das benachbarte Abteil, wohlgemerkt Ruheabteil, zum Angriff aus.
„...ja, hallo, Helga, ich bin's, die Gertrud. Hallo, hörst du mich? Ich ruf übers WLAN an. Hörst du mich? Ja? Super, dann ist's....ach...Moment....grad ist die Verbindung abgebrochen... Moment....hallo, hallo? Ah ja, jetzt höre ich dich wieder. Sehr gut...und, wie gehts Dir so.....hallo? Hallo? Helga? Mist, ich hör' schon wieder nix. Hallo? Ja, jetzt ist es wieder besser. Also, dann erzähl mal, wie waren denn .....wie?.... Was?...Hallo? Heeelgaa? Ist es jetzt wieder besser? Hallo, haalloo? Nein?.....Hallo, ist es jetzt wieder gut? Ja, gut, ich höre dich auch. Ich bin grad im Zug, weisst du, deswe.....hallo? Scheisse, schon wieder unterbrochen.....hallo? Heeeelgaa?......Ja, jetzt ist die Verbindung wieder sehr gut..... hallo....? Also, so ein Scheiss aber auch, typisch für die blöde Bahn.....“
Ich könnte die Seite problemlos mit dieser Konversation füllen, und es wäre nur ein Bruchteil des Gesprächs wiedergegeben. Inhaltlich verpasst Ihr aber gar nichts, denn mehr Informationen kamen während dieses unfreiwillig mitgehörten Telefonats nicht rüber. Im Ruheabteilwagen hätte die telefonierfreudige Dame gerne auch ihre Tür zuschieben können, wenn sie schon nicht die Tugend des Schweigens beherrscht. Ich war versucht, aufzustehen und selber ihre Abteiltüre zu schliessen, hatte aber keine Lust, womöglich blöd angepatzt zu werden. Das hätte mein 1. Klasse-Gefühl zusätzlich beeinträchtigt.
Zurück in mein eigenes Abteil. Hier nahm der kulinarische Verlauf mindestens ebenso Fahrt auf wie der Zug. Das Käsebrötchen war noch im Entrée des Verdauungstraktes meines Reisepartners, da bekam es schon Gesellschaft in Form eines Burgers, der zwar sicherlich mittlerweile abgekühlt war, nicht aber an intensivem Zwiebelaroma eingebüsst hatte. Wieder knisterte die Tüte, und die Cocktailsauce tropfte. Mahlzeit!
Um es kurz zu machen: Ich bin trotz allem heil und unversehrt an meinem Zielort angekommen.
Und die Moral von der Geschicht‘?
1. Einfach mal die Klappe halten, kann der Menschheit durchaus einen Dienst erweisen. Es kommt nicht immer nur Schlaues heraus. Das gilt übrigens auch für öffentlich geführte Telefongespräche mit intakter Verbindung.
2. Die Klappe geschlossen halten gilt auch im kulinarischen Sinn. Und wenn schon essen immer und überall sein muss, dann bitte ohne Knoblauch, Zwiebeln, geschossartigen Krümeln, Fisch und Käse.
3. Das nächste Mal werde ich möglicherweise wieder mit dem Auto fahren, Ökobewusstsein hin oder her. Mein grünes Gewissen wird dann sehr schlecht sein. Dann kann ich mir aber meinen First Class Komfort selber gestalten. Und meine Mitfahrer suche ich mir aus. Sie müssen wohlriechend sein und dürfen mich gerne mit ihren Gesprächen inspirieren und bereichern. Und im richtigen Moment auch mal schweigen.
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