Klickt auf den jeweiligen Text oder das Bild, damit Ihr alles lesen könnt
(August 2022)
Im Rahmen einer Kritik über einen neuen Kinofilm las ich über den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard. Er äusserte den Gedanken, dass das Leben stets vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden wird. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das: Hinterher ist man immer schlauer. Ich glaube, der kluge Mann hat recht.
Die Vorwärtsbewegung ist stets im höheren Tempo. Sei es beim Laufen, Autofahren, Buchstabieren (versucht das mal von hinten nach vorn!), Skifahren oder eben bei den Lebenserfahrungen. „Vorwärts“ geht immer einher mit einer Erwartung, einem angestrebten Ziel oder erhofften Ergebnis, aber zugleich mit Ungewissheit, ob alles so gelingt und eintritt, wie man es anstrebt.
„Rückwärts“ dagegen findet im Schritttempo statt. Das habe ich bereits in der Fahrschule gelernt. Runter von Gas. Die Reflektion findet langsamer, ganzheitlicher und intensiver statt. Dadurch wird auch das Verstehen einfacher. Man hat hierfür genug Zeit und muss nicht mehr spontan agieren. Es ist eh zu spät. Und natürlich ist das Zurückblicken auch deshalb leichter, weil man weiss, wie alles ausgegangen ist und dass man tatsächlich alles überlebt und auch mehr oder weniger bewältigt hat.
Zudem kann ich aus begangenen Fehlern lernen. Ich kann sie nicht rückgängig machen, aber ich werde dadurch hoffentlich klüger. Die erweiterte Klugheit kann mir dann beim weiteren „Vorwärts“ helfen.
Ich bin weder lebensmüde noch durch Krankheit oder Alter unmittelbar mit dem Tod konfrontiert. Dennoch überlege ich mir heute schon manchmal, wie es wohl sein wird, wenn ich eines Tages auf dem Sterbebett liege: Was war? Was bleibt? Was zählt? Was nehme ich mit? Was lasse ich zurück?
Mir fällt auf, dass mir in meiner virtuellen Sterbestunde ausschliesslich die sogenannten kleinen Dinge des Lebens als wichtige Elemente erscheinen. Es ist nicht das schicke Auto, nicht das schöne Haus, nicht die neue Handtasche oder das opulente Menü. Natürlich führen solche Annehmlichkeiten zu einem angenehmen Leben. Ohne solch hübschen Attribute wäre der Blick zurück womöglich ein anderer, weil mir das Hier und Jetzt immer wieder Unzufriedenheit sowie das Gefühl gegeben hätte, nicht so gross herausgekommen zu sein wie andere. Das schliesse ich nicht aus.
Dennoch nützt mir all das nichts, wenn nicht die vermeintlich kleinen Dinge mein Leben lebenswert gemacht hätten. Dinge, die absolut unbezahlbar, im Kern jedoch kostenlos sind:
❤️Ich darf in Frieden und körperlicher sowie geistiger Freiheit leben
❤️Am Abend schlafe ich satt und warm ein (gelegentlich auch tagsüber)
❤️Meine Familie und meine Freunde sind für mich da, sind ehrlich zu mir und nehmen mich trotz allem so an, wie ich bin, mit all meinen (sehr vielen) Vorzügen, aber auch all meinen (sehr wenigen) Macken
❤️Meine Kinder machen aus dem, was ich, was wir ihnen mitgegeben haben, etwas Gutes und wissen, dass nicht alles selbstverständlich ist
❤️Mein tapferer Körper trägt mich verlässlich durchs Leben und erträgt meine immer wieder auftretende Unzufriedenheit mit seinen Makeln freundlich (allerdings lässt er sich auch nicht beirren im Aufbau von Pölsterchen und Gesichtskratern)
In weiser Vorausschau versuche ich nun, durch den dänischen Philosophen inspiriert, im hohen Vorwärts-Lebenstempo regelmässig in Ruhe zurückzublicken, quasi so zu tun, als hätte mein letztes Stündlein geschlagen. Dadurch schärft sich mein Blick für all das Gute und ordnet das weniger Gute, das mir auch widerfährt, ein bisschen ein. Es tritt mir aber auch in den Hintern und zeigt mir auf, wo ich schnellstens mal wieder in die Gänge kommen sollte, um meiner Umwelt im Hier und Jetzt angemessen und wertschätzend zu begegnen.
Sollte ich jetzt versehentlich auch in Euren Allerwertesten getreten haben, so tut mir das natürlich äusserst leid, aber es ist nur in wohlwollender Absicht geschehen. Wir sitzen doch alle in ein- und demselben Boot und schaukeln auf den Wellen des Lebens vorwärts. Ein Blick zurück lohnt sich hierbei immer. Der hilft uns, klüger und menschlicher zu werden. Lasst Euch ruhig genügend Zeit dabei. Schnell wird's von allein wieder, und zwar schneller als uns allen lieb ist.
© 2022 cococarelle.com