CocoCarelle

Interessierte Leserinnen und Leser wie Ihr sind die wertvollste Motivation für mich zu schreiben.

Meine Werkzeuge sind die leichte Feder sowie der scharfe Blick fürs Unwesentliche. Ich nehme das Leben nicht auf die leichte Schulter, aber sehr gerne auf die Schippe. Bei mir gibts garantiert keine Schmink- oder Diättipps. Ich mags naturbelassen, echt und ehrlich.

Schwebt mit mir durchs Leben - ganz ungeschminkt und luftig leicht.

 

 

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(November 2020)

 

Meine Brut wird flügge. Das Nest, in das ich einst die empfindlichen Eier gelegt habe, ist immer häufiger leer. Meine kleinen Vögelchen spannen schon länger mehr und mehr ihre zarten Flügel und haben die ersten Flugversuche hinter sich gebracht. Bisher sind sie immer wieder sicher gelandet.

 

Das Älteste meiner beider Vögelchen ist jetzt ready for Take-Off und startet demnächst in den ersten Job nach dem abgeschlossenen Studium. Das Reiseziel ist eine fremde Stadt in einem fremden Land mit einem fremden neuen Nest. Nach Studenten-WG und vor erster eigener Wohnung sind wir kurzzeitig die Zwischenstation.

Mein Junges kann es kaum erwarten, in die vogelfreien luftigen Höhen aufzusteigen und die Route von jetzt an selber zu bestimmen. Es flattert sich in unserem Nest bereits unaufhörlich warm und verursacht hierdurch ziemlich viel Wind und Unruhe. Seine Augen sehen alles messerscharf und haben einen neugierigen und ungeduldigen Blick auf die Welt. Gelegentlich kassiere ich einen Zwick mit dem nervösen Schnabel, wenn wir uns wieder einmal uneinig sind, wer es denn jetzt besser weiss.  


Gäbe es in der Vogelwelt eine Flugsicherung mittels Lotsin im Vogeltower, dann wäre ich eine heisse Kandidatin für diesen Posten. Verantwortungsbewusst melde ich sofort:
„Tower an Vögelchen! Noch keine Startfreigabe! Hast Du, geliebtes Junges, denn für alle Fälle einen Ersatzwurm dabei, solltest Du in unwirtlichen Gegenden zwischenlanden müssen? Ist Dein Gefieder auch hübsch herausgeputzt und sind Deine Schwingen wirklich stark genug, um diese Reise zu überleben? Sowohl der Vogelpapa als auch ich kämen sofort zu Dir geflogen, solltest Du Hilfe brauchen. Huckepack würden wir Dich sicher zu Deinem neuen Ziel bringen.

Und denk dran, unterwegs lauern gefährliche Feinde, die es auf Dich abgesehen haben! Ruckzuck wirst Du von einem Adler gepackt und gefressen. Bitte gib sofort Meldung an den Tower, wenn Du sicher gelandet bist! Denn irgendwann wirst Du ausserhalb meines Radars sein.

So, und mit zwei Herzen in meiner Brust lasse ich Dich nun fliegen: Take off! Bye Bye! Gute Reise! Happy Landing! Gottes Segen!“


Ich verlasse den Tower und fliege traurig ins heimische Nest zurück. Ein paar Federn fliegen unordentlich durch die Luft. Ein angeknabberter Wurm liegt vertrocknet in der Ecke. Typisch für mein Junges. Chaos fand es schon immer gemütlich. Als ob mir Aufräumen mehr Spass machen würde als ihm.
Heute bringe ich trotzdem noch einmal voller Liebe und mit etwas Wundschmerz die leere Nestecke in Ordnung. Gleichzeitig freue ich mich aber, dass ich von nun an weniger Würmer auf den Tisch bringen, weniger Nestpflege betreiben muss und ein grosses Stück Verantwortung an mein Junges abgeben kann. 

 

Das zweite Küken sitzt noch im Nest. Gott sei Dank. Aber nicht mehr lange. Auch ihm wird’s langsam zu eng. Jeden Tag lernt es eifrig dazu und fängt seine Würmer meistens selbst. Nur für die Delikatesswürmer bin ich noch verantwortlich. Neulich ist das Kleine versehentlich aus dem Nest gefallen, aber hat sich tapfer allein zurückgerettet und den Sturz unbeschadet überlebt. Es wird auch bald ganz ohne mich bestehen können, ob mir das nun gefällt oder nicht. 
Natürlich gefällt mir das. Auch wenn ich ein bisschen wehmütig bin. Aber Schmerz gehört nun einmal zum Leben dazu. Abschied nehmen ist nicht so schön wie Hallo sagen. (Die eine oder andere Ausnahme , wo ich lieber ‚Ciao‘ als ‚Willkommen‘ sage, gibt es allerdings auch)

Aber so wie es jetzt ist, so soll es sein. So ist es gut. Ich bin sehr dankbar für meine wohlgeratene Brut und meine neue Freiheit. Jetzt kann ich verstärkt Augenmerk auf meine eigenen Flugrouten lenken. 


Auch Vogelpapa rückt wieder mehr in meinen Fokus. Uns verbindet ja nicht nur die Aufzucht der Brut, sondern noch vieles andere mehr. Gerade kommt er fröhlich angezwitschert. Er freut sich mit mir über unsere neue Freiheit, wenn auch mit einem weinenden Auge. Für ihn bleiben jetzt aber mehr Würmer übrig, und er kann jederzeit ungestört mit Vogelmama schnäbeln. 
Natürlich darf unsere Brut jederzeit ins heimische Nest zurückfliegen, aus reiner Besuchsfreude oder auch aus einer Not heraus. Das Futter wird immer für alle reichen. Sogar Vogelpapa wird dann gerne wieder teilen. 
Meine beschützende heisse Liebe für meine zarten Jungen wird immer bleiben, auch wenn sie inzwischen viel grösser und stärker sind als ich es bin.

 

Ich konnte mir nie so recht vorstellen, wie es sich anfühlt, älter zu werden. Immer jung zu bleiben und unbeschwert durch das Leben zu fliegen schien mir für eine lange Zeit selbstverständlich. An diesem Punkt ist jetzt meine Brut. Sie ist nachgerückt und hat mich eine Alterskategorie weiter nach oben geschoben.

Ich gönne es ihnen aber von Herzen und werde versuchen, mich dankbar ans `Nicht mehr ganz jung sein` zu gewöhnen. Ganz unabhängig vom Alter werde ich allerdings immer einen Vogel haben....