CocoCarelle

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(August 2021)

 

Der Tag, inklusive Nacht, hat bekanntlich 24 Stunden. Es bleiben, wenn ich mich halbwegs ausschlafe, grob gerechnet 17 Stunden für die aktive Zeit. Klingt ziemlich grosszügig. Aber die 1020 Minuten rinnen mir nur so durch die Finger. Denn ich bemühe mich, alle guten Ratschlage für ein gesundes und erfülltes Leben gewissenhaft zu befolgen.

Ich erwache und starte meine Morgenmeditation, um nicht nur im neuen Tag, sondern auch bei mir selber anzukommen. Im Bad putze ich mir dann die Zähne. Drei Mal täglich sollte das geschehen, jeweils zwei Minuten lang.

Als Nächstes muss der weibliche Körper als Grossbaustelle bearbeitet werden. Augen-, Hals- und Dekolletécreme, Serum, Tagespflege, Hand- und Fusscreme, und nicht zu vergessen die Antizellulitis- Figurpflege. Die Kosmetikindustrie hat sich echt was ausgedacht für uns. Jetzt noch schnell die Wimpern getuscht. Den Kauf der Mascara erläutere ich hier lieber nicht näher, denn die Auswahl zwischen Black, Ultrablack, Smoky Black, Deep Black, Volume, Supervolume, Long Lash, Extreme Long Lash mit 20 verschiedenen Bürstchenformen ist eine Zumutung und komplizierter als der Kauf eines Autos mit neuester elektronischer Raffinesse. Ein erfolgreich abgeschlossener Englischkurs scheint auch Voraussetzung für den Einkauf von Mascara zu sein. „Wimperntusche schwarz“ mit Standardbürstchen würde mir genügen. 

Jetzt kommt das gesunde Frühstück. Die Empfehlung „five a day“ (der Englischkurs hat sich wirklich gelohnt!), also täglich 5 Portionen Früchte, Gemüse und Salat findet hier ihren Anfang. Einfach ein Marmeladen- oder Käsebrot ohne Vitamine eingeschoben geht gar nicht. Also schnipsele ich jetzt für den Smoothie Ingwer, Gurke, Petersilie und Karotte und presse eine Zitrone aus. Dieser Vitaminbooster hilft mir, die Top-Leistung zu erbringen, die mein Arbeitgeber, die Gesellschaft und ich selber von mir erwarten. Schliesslich bin ich kein Weichei, sondern ein topfitter Bestandteil aller Leistungsträger, die das Bruttoinlandsprodukt stets steigen lassen.

Hierfür mache ich auch mindestens eine halbe Stunde Sport täglich, möglichst an der frischen Luft. Das Befolgen dieser Empfehlung ist elementar für die Vermeidung von Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, demenzieller Entwicklung, Rücken- und sonstigen Schmerzen sowie Depressionen. Also ran an den Speck und gegen diese Gefahren angejoggt, angeyogt und angeturnt.

So, und schon muss ich mich um die nächste Portion „Five a day“ kümmern. Es gibt Gemüsepfanne, low carb, vegan und ultragesund.

Natürlich habe ich total viele Freunde und bin in den sozialen Netzwerken omnipräsent. Auf Instagram und Co. lasse ich meine unzähligen Follower mit super gephotoshoppten Bildern an meinem hippen Leben teilhaben. Voll mega!

Und schnell lege ich noch eine kleine Runde Gesichtsyoga ein. Sieht zwar sehr doof aus, soll aber wahnsinnig wirkungsvoll sein. Schaut doch mal auf Instagram, wie gut mir das bekommt!

Und ja nicht vergessen: Mindestens zwei Mal pro Woche Sex haben, und zwar richtig guten!  Lebenslang! Unbedingt beweisen, was man so drauf hat! Ansonsten könnt Ihr gleich einpacken!

Als Mensch von Welt muss ich auch immer etwas Gescheites zu allen Themen zu sagen haben. Eine ausführliche  Zeitungs-, Fachliteratur- und Bestsellerlektüre  sowie Nachrichtenverfolgung ist unabdingbar, um politisch, kulturell, wirtschaftlich und gesellschaftlich up to date zu sein.

 

Ach, Mist. Jetzt habe ich bei all dem Programm glatt vergessen, ein weiteres Mal die Zähne zu putzen und ins Büro zu gehen. Und habe aus Versehen eine Pizza vertilgt.

Hm. Wisst Ihr was? Ich habe gerade ein bisschen geflunkert. So toll bin ich gar nicht. Ich hasse Joggen, habe nur wenige, aber gute Freunde, und bei Instagram dachte ich bis vor kurzem, dass das eine neue Gewichtseinheit sei.

Und der Rest? Alles in Massen - das ist mein Motto. Das gilt auch für Vitamine, Wimpernschwärze und Sex.

Das gilt auch für diesen Text. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen und werde mich jetzt auf die Couch legen. Mit ungeputzten Zähnen, einer Tüte Chips in der Hand und dem Vorsatz, erst einmal gar nichts zu tun.